Dieser Artikel basiert auf dem Buch „Wirtschaftsirrtümer“ von Henrik Müller. Der Untertitel lautet: 50 Denkfehler, die uns Kopf und Kragen kosten. Das Buch ist 2014 im Campus Verlag erschienen. Dieser Blogbeitrag widmet sich dem Kapitel / Irrtum 21: die Digitalisierung ist ein Segen.
Eins vorweg: Hernik Müller tritt nicht als Fortschrittsverweigerer auf. Ich lese dieses Kapitel 21 als Antwort auf die aktuellen Heilsversprechen, die die Digitalisierung mit sich bringt. Zunächst lobt auch Müller die Vorteile, die die Digitalisierung mit sich gebracht hat, und die wir schon heute spüren und nutzen können, zum Beispiel bei Kommunikation, Verfügbarkeit von Information und bei digitalisierbaren Prozessen.
Im zweiten Schritt begibt Müller sich in sein Fachgebiet, der Ökonomie, und beleuchtet die grundsätzlichen Auswirkungen:“So steht es in jedem Mikroökonomiebuch: Grenzkosten der Produktion null = Preis des Produkts null.“ Diese Regel können wir uns alle plausibel erklären. Während das Entwickeln z.B. eines sog. sozialen Netzwerks oder einer App mit ihren Funktionen einen großen Aufwand erzeugt, ist es mit Ausnahme einiger Serverkosten letztendlich egal, ob das Produkt von einem, 1 Million oder gar 1 Milliarden Usern genutzt wird. Der Preis des Produkts müsste also mittel- bis langfristig gegen null gehen. So weit die Regel – doch Unternehmen wollen und müssen Geld verdienen.
Die Lösung liegt in der Marktbeherrschung. Durch die Digitalisierung wird diese gefördert. Skaleneffekte und die Multiplikation eines Geschäftszweigs auf andere Kontinente und Länder, fördern Wachstum und Größe. Gelingt es einem Unternehmen, eine beherrschende Stellung einzunehmen, sind dadurch sogar enorme Gewinne möglich. Wir erinnern uns: es gibt keine Grenzkosten. Jeder Umsatz durch einen weiteren Konsumenten, führt 1:1 zu höheren Gewinnen. Und gelingt es doch mal einem mittelständischen Projekt zu ansehnlicher Größe heranzuwachsen, wird es vom Platzhirschen aufgrund seiner Börsenkapitalisierung einfach aufgekauft und integriert (siehe whatsapp, Instagram u.a.).
Monopolisierung ist demnach eine direkte Folge der Digitalisierung. Wettbewerb ist in dieser Welt nicht vorgesehen, sondern nur in der Anfangsphase eines neuen Geschäftsmodells vorübergehend in Kraft, und zwar solange, bis sich einer der Kontrahenten beherrschend durchgesetzt hat.
Diese Monopolisierung behindert nicht nur den Wettbewerb, sondern beeinträchtigt auch die Anbieter der Inhalte, und damit die zur Verfügung gestellten Inhalte. Als Produzent, Autor, Musiker muss ich für die Listung meines Angebots bereit sein, die Konditionen des Giganten, der meine Leistung bekannt machen und vermarkten soll, zu akzeptieren. In Amerika, wo die Buchpreisbindung nicht gilt, hat Amazon die Verkaufspreise der Bestseller bereits vor längerer Zeit um ein Drittel gesenkt, zu Lasten der Autoren und Verlage. Musikschaffende können ebenfalls ein Lied (sic) davon singen! Die Folgen sind absehbar: die Rechteinhaber werden im Preis gedrückt, da die Nichtzugehörigkeit zum Angebotskanon mit Nichtbedeutung, ja fast schon mit Nichtexistenz gleichzusetzen ist.
Der opportunistische Konsument freut sich: für zehn Euro im Monat alle Musik hören, die ich möchte. Was kann es Besseres geben? Die Gefahr besteht in einer Qualitätsabnahme der Angebote. Oder in einer Verengung des Angebots: da ich mit meiner Produktion eine möglichst große Zielgruppe treffen muss, ist wenig Raum für individuelle Angebote.
Nachdem zunächst physische Produkte (CDs und Bücher) digitalisiert wurden, sind es im zweiten Schritt Dienstleistungen, die nicht durch eine Person erbracht werden müssen, zum Beispiel Vermittlung von Finanzprodukten. Die Branche arbeitet mit Hochdruck am nächsten Schritt, den physischen Dienstleistungen. Dass Chauffeure überflüssig werden, lässt sich schon absehen. Bis die Pflegekraft in den Ruhestand geschickt werden kann, wird wohl noch etwas mehr Zeit vergehen. Und wem möchten wir zukünftig die Bypassoperation am Herzen anvertrauen: dem erfahrenen Chirurgen oder einem unfehlbaren OP-Roboter?
Es gibt Hoffnung: Zeitungen und Bücher werden noch gelesen, Menschen buchen auch heute noch ihre Reisen im Reisebüro. Es soll sogar Freaks geben, die sich eine LP (Langspielplatte) kaufen. Wir Menschen sind der Bremsfaktor der technischen Entwicklung. Hoffen wir, dass durch die Verlangsamung, die guten Seiten der Digitalisierung das Übergewicht gewinnen!